Thursday 16 July 2015

Funktionsmaschinerie Mensch

Der Mensch ist wie eine Maschine. Er muss funktionieren. (Maurice Moel)

So hatte er sich das nicht vorgestellt. Nein. Er hatte sich das alles wahrhaft anders vorgestellt. Ein festgezerrtes Arbeitsverhältnis war ihm seit jeher so verhasst gewesen wie die trügerische Sicherheit einer systemkonformen Lebensweise und der damit einhergehenden Verpflichtungen: Aufstehen, essen, arbeiten, essen, Haushalt, schlafen und ein wenig Freizeit, Konsum und Beziehung. Ein wenig Freizeitvertreib. Frei: Zeitvertreib. Wie schön war es doch gewesen, als er noch müßige Stunden seinen schwärmerischen Tagträumen mit vollmundig durchwobenen Gedanken nachhängen konnte, ohne bereits im Hinterkopf den Ablauf des nächsten Arbeitstages zwanghaft im Unterbewusstsein durchgehen zu müssen. Zeit und Ruhe, wenig Haben und viel Sein. Stundenlange Spaziergänge durch lichtdurchflutete Waldstücke. Achtsames Leben im eigenen Rhythmus ohne Zwang. Umherwandern in harmoniebeseelter Natur: Die Jahreszeiten schmecken, den Vogelsingsang hören, andächtig wahrnehmen und Stille nicht als verlorene Zeit sehen, sondern als Chance, um eine vertiefte, innere Erkenntnis in sich zu entdecken. Nachforschendes sich auf den Grund gehen. Jeder Tag ein einziges Hineinhören in auf- und abwogende Gemütsregungen. Farben, Formen, Klänge. Lebensstromgesänge.

„Der Mensch ist wie eine Maschine. Er muss funktionieren.“ Dieser Satz kam ihm wieder in den Sinn, als er sich bei einer abendlichen Zigarette nach einer kraftzehrenden Arbeitswoche mit immer wiederkehrenden Gedanken herumschlagen musste. Ja, sein Dichterfreund hatte Recht gehabt: Derjenige der auf Sicherheit spielt und ein gutbürgerliches Nullachtfünfzehn-Kleinstadtleben mit fester Anstellung, einer eigenen Wohnung, einer „normal“-monogamen Beziehung mit sonntäglichem Tatortschauen führt, ist wie eine Maschine und er funktioniert. Er muss. Oder zumindest denkt er, dass er muss. Oder er richtet sich allmählich im Nichtmüssen aber schließlich Dochwollen ein. Er wird zu einem sesshaften, angepassten Menschen. Das muss nicht schlecht sein, aber es schränkt ihn dennoch in seinem Lebensvollzug und seinen zeitlichen Möglichkeiten ein und es unterscheidet ihn zudem von denjenigen, die sich für ein Leben ohne vermeintliche Sicherheiten, für offenherziges Reisen und für grenzenlose Freiheit entscheiden. Eine Freiheit, die sich aus dem Losgelöstsein vom Verbindlichen, Festgelegten und von einengenden Verpflichtungen ergibt. Spontaneität statt Struktur. Ziellosigkeit statt Wochenplan. Augenblick statt Jahresziel. Und doch stellt sich die Frage: Ist ein solches Leben wirklich frei?

Ist es nicht ebenso den natürlichen Zwängen eines jeden Menschenlebens unterworfen? Den organischen Zerfallsprozessen, der Schwerkraft und dem Zwang des Geldes. Dem Zwang des Auskommenmüssens und Sicharrangierens mit all den Anderen. Mit dem Aussteiger wie mit dem Top-Manager. Mit dem Arbeitskollegen und dem Nachbar von nebenan. Und überhaupt: Leben kostet. Reisen kostet. Essen kostet. Trinken kostet. Die Freundin kostet wie die Ehefrau. Nur schlafen kostet nichts. Zumindest wenn man sich mit einer versifften Unterführung oder mit einer überfüllten Obdachlosenunterkunft und einem Schlafsack zufrieden gibt. Aber das kostet Nerven und benötigt eine Zähigkeit, die nur die Wenigsten mitbringen. Und zu diesen wenigen Verrückten zählte er sich nicht. Nein. So sah er sich definitiv nicht!

Er sah sich sowieso nur noch selten. Beim frühmorgendlichen, gesichtszerknirschten Zähneputzen manchmal noch. Mit Schlafstaub und Falten im Gesicht. Zerknittert, müde und mit einer stillen Vorahnung eines aufziehenden, schrecklich stechenden Wortes in der Brust: Arbeitsalltag. Oder abends nach dem Sport: Manchmal sogar glücklich, mit einem Farbton Endorphin hinter der Stirn und leuchtenden Augen, von einer kurzen Auszeit in wogender Naturharmonie wieder minimal mit Leben durchhaucht. Aber die Zeit des langen Hörens, Fühlens, Schweigens in der Stille war vorbei. Und allmählich – fand er sich damit ab.

Dieses Sichabfinden war nicht nur Verlust. Nicht nur zähneknirschendes Sichzusammennehmen, sondern zugleich auch Befreiung von dem Zuviel an Freiheit und dem Zuviel an müßigen Gedanken, die ihn in der Vergangenheit mitunter realitätsfern werden ließen. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Die Entscheidung für den einen und bewusst nicht für den gegabelten Weg, der jegliches Entscheidenwollen fürchtet und lieber zwischen den Stühlen verhaftet bleibt als klar Position zu beziehen. Manch einer Verantwortung können wir nicht entfliehen. Wenn wir uns gerufen und an einen Platz gestellt fühlen, dann aber doch in eine Phase der Überforderung geraten und alles hinwerfen wollen, dann bleiben uns nur zwei Optionen: Flucht oder Kampf. Wer die Kraft für den Kampf nicht mehr findet, sucht das Weite. Er flieht. Ja. Wenn es uns selbst an den Kragen geht und wir das Unerträgliche nicht mehr ertragen, wollen wir nur noch fliehen, laufen, wegrennen und den – uns ursprünglich zugedachten – Weg verlassen. Doch derjenige der glaubt, so hatte er einst gelesen, flieht nicht. Er vertraut. Weise Worte in schnöder Theorie. Und dennoch: Auch im festen, realitätsnahen Eingebundensein, kann sich Freiheit entfalten. Freiheit die mit Verantwortung einhergeht, die nicht einengt sondern weitet aufgrund einer festen Entscheidung. Aufgrund. Auf Grund eines Grundes, der trägt.

Einige Hirnwindungsserpentinen später kam ihm der Gedanke: „Unser Besitz knechtet.“ Ja. Manchmal wünschte er sich allen Besitz fort. Nur noch er. Ein Wanderstab vielleicht. Das Nötigste und los. Fort und ungebunden Unterwegssein. Wie ein Wanderprediger, mit eigenen Texten und der eigenen Botschaft an die Menschen, umherziehen. Aber von diesen guten Ideen und Menschen gab es doch bereits schon mehr als genug. Genug Religionen, genug Ideologien, genug Gedanken, genug Lieder, genug Gedicht, genug Krieg, genug genug genug!

Eine Genugtuung war der Gedanke dennoch: Alles loslassen und sich fallen lassen. Doch dieses Gefühl konnte er nun zusehends auch in sich selbst erzeugen. Momente der Stille konnte er sich auch im Rahmen seines Alltags schaffen und in diesen Momenten lernen, loszulassen und abzugeben, im Vertrauen auf einen gütigen Grund. Er musste erst noch lernen, dass nicht aller Besitz per se schlecht ist. Sondern, dass nur der Besitz ihn unfrei macht der ihn festhält, ihn knechtet und bindet. Besitz aber, der ihm zweckmäßig zum Gebrauch dient, ist in Ordnung. „Und auch ich bin in Ordnung“, schoss es ihm plötzlich, in erstaunlicher Klarheit, in den Sinn: „Ich muss kein durch und durch selbstloser, großer Held sein. Kein König. Kein Ritter. Kein Gott. Nur Mensch, nur Mensch. Ein Mensch mit Bodenhaftung. Festverwurzelt im Schlamm. Ab und an gerne auch mit Gedanken voller Sternenstaub. Aber ebenso nahe an der Realität und am Puls der Zeit. Verantwortung tragend, in einem auf Dauer erträglichen Maß. Ein Leben in Normalität, ohne den Anspruch herausstechen zu müssen. Demütig mit dem eigenen Menschsein zufrieden. Fehlbar, unvollständig und trotz allem: Versöhnt!“

Und so stimmte er leise seinem weltumsegelnden Dichterfreund zu: „Der Mensch ist wie eine Maschine.“ Aber er ist auch ein Rätsel. Unergründbar, absurd und herrlich verrückt. Eine facettenreiche, unlösbare Funktion. Wahnsinn auf zwei Beinen. Winzling in der Welt. Staubkorn in der Milchstraße. Ein Witz im Universum: Lässt los und bricht auf, legt an und hebt ab. Sucht Zeichen, entschlüsselt und erahnt fern verborgen – im Nebel, am Horizont – vielleicht noch
ein Ziel.

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